Prägende Erlebnisse in der neuen Heimat Catterfeld/Altenbergen (von 1945 – 1955)

Im Frühjahr 1945, wenige Wochen vor Ende des 2. Weltkrieges, bezogen wir unsere neue Heimstatt im Thüringer Wald.
Hier in Catterfeld und Altenbergen sollte das vom Großvater früh geweckte Interesse für die Geschichte meiner Thüringer Heimat durch die Mutter unseres Vaters, die Großmutter Auguste Scharff (geb. Bischof), schon sehr bald eine tiefgründige Weiterentwicklung erfahren.

Der Candelaber, ein 9 m hoher Sandsteinleuchter auf dem Alte- bzw. Johannesberg

 

untere Reihe: der Autor mit seinen Schwestern Christine und Bärbel im Sommer 1945 am Candelaber

 

Waren es in meiner Geburtsstadt die Krämerbrücke, das Domensemble und die Festung Petersberg, die meine Phantasie anregten, sollte in der neuen Heimat der Candelaber, der bereits am 1. September 1811 als Denkmal eingeweiht worden war, schon früh zur Spurensuche anregen.
Hier in Catterfeld, in der Georgenthaler Straße 9, erlebte ich die letzten Kriegsmonate, meine Schul- und Lehrzeit. Hier wurde mein Geschichtsbewusstsein geprägt, das mein späteres Handeln mit vielen interessierten Schülern bestimmen sollte.
In den Monaten März/April des Jahres 1945 mussten wir noch allzu oft unsere Betten im Keller aufschlagen. Hier diente uns das Kartoffellager als „willkommene Matratze“. Großen Hunger, den damals Hunderttausende litten, lernten wir nicht kennen. Hatten wir doch Kartoffeln und Kohlrüben. Kartoffeln, die wir auf der blanken heißen Herdplatte ohne Fett „schmackhaft“ zubereiteten und Kohlrüben, die eigentlich zu fast allen Gerichten als Zugabe verwendet wurden. Als besonderer Brotaufstrich diente die Melasse, ein Restbestand der Zuckerrübenverarbeitung. All diese Produkte reichten zum Überleben der letzten Kriegsmonate und der ersten schweren Nachkriegsjahre.
Der 7. Geburtstag der Schwester Bärbel wird uns allen unvergessen bleiben. Während die Mutter an jenem 5. April 1945 den Geburtstagskuchen aus Brotmehl, Kleie und Melasse zubereitet, wir im Keller die „Festtagstafel“ auf dem Kartoffellager richten, wird im nur 2 km entfernten Georgenthal der Kaufmann Otto Fabian ein Opfer der Faschisten.
Maschinengewehrgeknatter, übertönt von Schüssen der schweren Artillerie, kündet vom Anrücken der angloamerikanischen Truppen, lässt uns im Geburtstagsständchen für die Schwester verstummen.

 

Otto Fabian – ermordet am 05. April 1945 – Foto aus der Zeit des 1. Weltkrieges

Am 8. April, drei Tage nach der Ermordung Otto Fabians (Anm.: 33 Jahre später sollte dieses Ereignis in meinem Leben nochmals eine Rolle spielen.) marschierten die angloamerikanischen Truppen aus Richtung Schönau in Catterfeld ein. Am Rennsteig (Kreuz) tötete die SS noch jugendliche Soldaten durch Genickschuss, weil diese endlich mit dem grausamen Krieg Schluss machen wollten.
Ab Mittag musste die Catterfelder Bevölkerung die Wohnung verlassen, damit die anglo-amerikanischen Soldaten die Häuser „durchkämmen“ konnten. Alles, was Ihnen als Souvenir geeignet erschien, nahmen sie mit. (Anm.: In Georgenthal waren es später fast alle Fotos des ermordeten Otto Fabian.)
Bange Stunden vergingen, ehe wir schließlich am Abend jenes 8. April die geplünderten Wohnungen wieder aufsuchen durften. Auch wir hatten „Einquartierung“!
Jene US-Soldaten spielten nun täglich auf den Straßen das beliebte nordamerikanische Baseballspiel. Begeisterte Zuschauer waren wir Kinder. Wir bestaunten die riesigen Lederfanghandschuhe sowie die unheimlich scharfen „Geschosse“.
Als ich eines Tages unglückliches Opfer eines solchen Schusses wurde, trug man mich ohnmächtig geworden in unser Haus in der Georgenthaler Str. Nr. 9 (heute Nr. 5). Mit einer Riesenbeule an der Schläfe musste ich nun einige Tage das Bett hüten. Zwar wurde ich von jenem „Wurfgewaltigen“ damals nahezu mit Schokolade und Kaugummi überschüttet, doch ich war nicht zu beruhigen.
Als wenige Tage nach diesem Vorkommnis der „Übeltäter“ die Toilette aufsuchte, ich hatte mich von der leichten Gehirnerschütterung erholt, richtete ich das Holzmaschinengewehr, welches damals fast jeder Junge als „Spielzeug“ besaß, in Richtung Toilette, um mich für die erlittenen Schmerzen zu rächen.
Durch ein sehr schnelles Drehen der Kurbel erzeugten die Holzzahnräder ein Maschinengewehrähnliches Geräusch. Und plötzlich stand auch schon jener Sergeant mit herunterhängender Hose, die MPi in Anschlag vor mir. Selbst vor kleinen Kindern hatten sie Furcht. Die Maschinenpistole war ihr ständiger Begleiter.
Die ersten Nachkriegsjahre waren für die meisten schwere, sehr schwere Jahre. Es fehlte an Lebensmitteln, Heizmaterial, eigentlich an allen Dingen des persönlichen Bedarfs. Der Schwarzhandel blühte. In allen Haushalten musste in dieser Zeit jedes Familienmitglied bis zu den Groß- und Urgroßeltern mit Hand anlegen, um zu überleben.

 

Für die inzwischen drei Geschwister waren jene Abendstunden der ersten Nachkriegsjahre die schönsten, die wir im Kreise der Großmutter verbrachten.
Durch das Kennenlernen der deutschen Volkslieder, der Thüringer Sagen sowie der Märchen der Gebrüder Grimm wurden wir früh zur Liebe zu unserer schönen thüringischen Heimat erzogen. Bei allen Feierlichkeiten, doch besonders zum Weihnachtsfest wurde unser Gesang von unseren Eltern sowie der Tante Alma „verstärkt“.
Für mich persönlich gehören jene Stunden zu den unvergesslichsten, in denen Großmutter Auguste thüringische Sagen erzählte. Dies tat sie stets mit solch innerer Anteilnahme, dass ich sie einmal spontan fragte: „Und das hast du alles erlebt?“

1945: Schwester Bärbel, Nachbarkinder, der Autor (nachdenklich in der Mitte) und seine Großmutter Auguste beim „Holzstapeln“

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Frühjahr 1943 zu Besuch in Catterfeld: Großmutter Auguste im Kreise ihrer Enkel Roland, Christine und Bärbel

 

Gerade die Sagen um Bonifatius, besonders jene, die den Alte- bzw. Johannesberg betreffen, beeindruckten mich schon damals zutiefst. Die thüringischen Geschichts- und Volkssagen spiegeln ja fast lückenlos den historischen Verlauf von der Urgesellschaft über die Feudalisierung bis zum späten Mittelalter wider. Diese Sagen und besonders die hochinteressante Geschichte: „Die Versammlung am Walde“ (Anm.:Am Ende meiner 38-jährigen Tätigkeit als Lehrer wurde mir Gelegenheit gegeben mit Schülern der 5. Klassen des „Gustav-Freytag Gymnasiums“ in Gotha/Siebleben jene „Versammlung am Walde“ „auferstehen“ zu lassen.) aus Gustav Freytags „Ingo und Ingraban“ (Die Ahnen) weckten bei mir schon früh den Wunsch, die Geschichte der Heimat meiner Vorfahren Altenbergens und Catterfelds einmal tiefgründig zu erforschen.
Für Feste und sonstige Feierlichkeiten sparten die Eltern und Großeltern damals solche wichtigen Lebensmittel wie Zucker, Brotmehl, Kleie und Hafermark auf, damit wenigstens die Kinder einmal in den Genuss von „Gebackenem“ kommen konnten.

 

Endlich begann sie, die sehnlichst erwartete Schulzeit. Durch den großen Umsiedlerstrom bedingt, betrug die Klassenfrequenz der 1. Klasse des Schuljahres 1947/48 zeitweise 51 Schüler. Ein Großteil war stark überaltert, was so manche Probleme (Rauchen u. a. m.) hervorrief. Das ABC und das Einmaleins erlernten wir in Ermangelung von Schreibheften auf der Schiefertafel. Noch heute überläuft mich eine Gänsehaut, denke ich an jene Quietschtöne zurück.
Auch später, als wir mit Federhalter und Tinte auf einem papierähnlichen Material zu schreiben begannen, war Schönschrift unmöglich; die Tinte suchte sich ihren eigenen Weg.

 

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Altenberger Schule (Faltblatt, 1939, Foto: Klepsch, Altenbergen)

Am 1. September 1947 war ich in die „alte Altenberger Schule“ eingeschult worden. Die Kinder Altenbergens bezeichneten die Catterfelder als Hippelböck´ (Ziegenböcke), und für die Catterfelder waren die Altenberger Stare. Großmutter Auguste war es, die ihren wissbegierigen Enkelsohn schon vor 55 Jahren über die Herkunft dieser unschönen „Vergleiche“ aufklärte:
Die Vorfahren der Catterfelder, die Chatten, opferten einst ihrem Gott Donar blumenbekränzte Ziegenböcke. Die Vorfahren der Altenberger aber opferten einst Wodan, dem Göttervater der Germanen. Wodan, auch Odin genannt, führte zwei weise Raben mit sich, die ihn über Vorkommnisse in der Welt berichteten. Und jenen Raben opferten (z. B. bei Umweltkatastrophen) die Einwohner Altenbergens. Damit sich der Spruch auch „reimte“ machten die Catterfelder die Raben zu Staren: “ Ihr Altenberger Staren, ihr könnt noch was erfahren“.
Mein Geschichtsinteresse erfuhr durch den Vater, doch vor allem durch den Klassenlehrer Horst Graf, eine weitere Ausprägung. Dieser verstand es als Neulehrer und unser Chorleiter, die Liebe zur Thüringer Heimat zu wecken und zu festigen. Er erwanderte mit uns die nähere Heimat, machte uns mit der Tier- und Pflanzenwelt vertraut.

 

Autor – sitzend – erste Reihe, dritter von links
(Foto: vom Schulkameraden Manfred Grüning – knieend, zweiter von rechts)

November 1951: Opa Wilhelm Hopfe und sein 10-jähriger Enkel Roland zur Gothaer Kanarienvogelausstellung

Nicht ungefährlich war unser Schulweg im Winter. Diejenigen Kinder, deren Großmütter/Mütter aus Alttextilien „Läppchensocken“ angefertigt hatten, waren besser dran als die, deren Eltern in den 1. HO-Verkaufsstellen Igelitschuhe erworben hatten. Diese besaßen die Wirkung von frisch gewachsten Skiern. Manche unnötigen Knochenbrüche waren die Folgeerscheinungen.
Im Schuljahr 1952/1953 erhielten wir eine junge Neulehrerin, die uns im Fach Geschichte unterrichtete. Ihr äußeres Erscheinungsbild führte bei einigen Jungen der Klasse zur besseren Mitarbeit und Disziplin. Auch ich hatte mir vorgenommen, meine Note des Vorjahres zu halten.
Sehr anschaulich wollte Frl. R. uns die Entstehung des Ortsnamens Catterfeld nacherleben lassen; doch ich hatte zuvor die glaubwürdigere Variante von der Großmutter erfahren. Die Junglehrerin wollte uns Glauben machen, dass Bonifatius einer Katharina ein Feld geschenkt habe und daraus Katharinenfeld = Catterfeld geworden wäre. Doch Großmutter Auguste erinnerte sich noch sehr gut an ihre Schulzeit und den hervorragenden Lehrer und Pfarrer Zschetzsche, der seinen Schülern damals erklärt hatte, dass Catterfeld auf den Stamm der Chatten zurückgehe und mit Bonifatius einst eine Frau missionierte, die nicht Katharina, wohl aber Lioba (Anm.: Jahrzehnte später sollte dieser Name in meinen Forschungen wieder eine Rolle spielen.) geheißen habe. Doch die Reaktion der Großmutter auf die falsche Darstellung durch die Lehrerin, die die Großmutter in der Catterfelder Mundart formuliert hatte, übersetzte dann ein Schulkamerad der Neulehrerin ins Hochdeutsche. Und dies brachte mir die einzige schlechte Note meines Lebens in „Betragen“ ein.
Ein Jahr vor der Beendigung meiner Schulzeit in Catterfeld sollte der vom Großvater Wilhelm früh geweckte und dann von der Großmutter Auguste (†) weiterentwickelte Forscherdrang durch folgendes Ereignis neu belebt werden:

Am Pfingstmontag des Jahres 1954 fanden sich auf dem Alte- bzw. Johannesberg über 8000 Christen ein, um die 1200. Wiederkehr des Todestages Winfried Bonifatius (5. Juni 754), des „Apostels der Deutschen“ feierlich zu begehen. Die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Thüringen unter der Leitung ihres Landesbischofs Dr. Moritz Mitzenheim (†) hatte ihr Landesjubiläum auf den Johannesberg mit seinem 9 m hohen Sandsteinleuchter verlegt. Tief beeindruckt von dieser unvergesslichen Feier und den Menschenmassen ging ich damals mit unserem Pfarrer Gerhard Herrmann (†) zum Landesbischof, um als Konfirmand diesen spontan Folgendes mitzuteilen: „Ich werde einmal erforschen, weshalb noch nach 1200 Jahren solche Menschenmassen ausgerechnet auf diesem Johannes dem Täufer geweihten Alteberg pilgerten, um eines Winfried Bonifatius zu gedenken!“
Höchstwahrscheinlich erinnerte sich der wahre Seelsorger, Pfarrer Gerhard Herrmann, bei der Konfirmation an jene spontane Reaktion seines Konfirmanden, als er mir auf die Konfirmationsurkunde am 3. April 1955 den Spruch aus der Offenbarung des Johannes (2. Vers, 10) schrieb:

„Sei getreu bis an den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben.“

Das Schuljahr 1954/55 sollte für mich vorerst das letzte Jahr an der Catterfelder Schule werden, ehe ich ein viertel Jahrhundert später hier als Lehrer tätig wurde.
Das Frühjahr 1955 begann nicht nur mit intensivem Lernen für die Prüfung in Vorbereitung auf die sehnlich erwartete Konfirmation, sondern gleichzeitig mit aktivem Lernen für die Abschlussprüfung. Eine solche war damals bei Beendigung der 8-jährigen Schulpflichtzeit vorgesehen.

Pfingstmontag 1954: Zur Feier zum 1200. Todestag von Bonifatius predigt Landesbischof Dr. Moritz Mitzenheim.

1955: Autor R. Scharff, Vater Walter, Tante Alma (†), Schwester Bärbel, Schwester Christine

1959: Zur Aufbesserung meines Stipendiums war ich (im Vordergrund) im August/September als Druschmaschinist Catterfeld/Altenbergens tätig.

Das erreichte Prüfungsergebnis berechtigte zur Erfüllung fast aller Berufswünsche. Mir schwebte vieles vor. Von meinem Schulchor- und Klassenlehrer angeregt, wäre ich gern Kruzianer oder Thomaner geworden, was die Mutter aber wegen der doch zu großen Entfernung (Dresden/Leipzig = Heimweh) nicht unterstützte. Ein Geschichts- oder ein Theologiestudium, welches unser Altenberger Pfarrer gern gesehen hätte, war so nicht möglich, aber für den Besuch der erweiterten Oberschule lag damals kein Interesse vor. Ich wollte entweder Koch, Bäcker, Fleischer oder Schlosser werden. Doch für das Erlernen dieser Berufe hätte man nicht unbedingt den erfolgreichen Abschluss der 8. Klasse benötigt. So entschied ich mich für den Vermessungsdienst, da der Kindheitstraum von der Erforschung der Geschichte der Heimat meiner Thüringer Vorfahren noch nicht ausgeträumt war. Ein mögliches Grabungsgelände hätte ich dann ja selbst vermessen können; ein landwirtschaftlicher Beruf lag mir völlig fern.
Im Juli 1955 hatten wir die Bewerbungsunterlagen an den Vermessungsdienst Gotha gerade abgesandt, als der Vater vom Rat des Kreises Gotha den Hinweis erhielt, dass das Prüfungsergebnis seines Sohnes es zuließe, in die vom Kreis Gotha zusammengestellte „Versuchsgruppe“ aufgenommen werden zu können. Jene bestand vorrangig aus Lehrlingen, die die „Mittlere Reife“ (= Abschluss der 10. Klasse) abgelegt hatten und nun als Elektro-Freileitungs- oder Kabelmonteure in nur zwei Jahren ausgebildet werden sollten. Die Vorstellung, schon mit 16 Jahren einen Beruf zu haben, führte zur Zusage von Vater und Sohn.
Die Erforschung der Geschichte der Heimat rückte vorerst in weite Ferne.