Lehre und produktive Arbeit (1955 – 1958)
Als am 1. September 1955 in den Schwerpunktgebieten der Industrie und Landwirtschaft der damaligen Deutschen Demokratischen Republik die zehnklassige Mittelschule eingeführt wurde – für eine obligatorische zehnklassige Schulbildung fehlten damals noch die hierfür benötigten Lehrer – begann für mich im VEB Energieversorgung Erfurt, Netzbetrieb Gotha, die Lehre als Kabelmonteur.
Das persönliche Leben war in jener Zeit noch stark von der Frage der friedlichen Zukunft der deutschen Nation und der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands geprägt. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich noch sehr genau an den 22. Januar 1955, meinen 14. Geburtstag. An diesem Tag lag die gesamte Kohle- und Stahlindustrie des Ruhrgebietes für 24 Stunden still. Achthunderttausend Berg- und Hüttenarbeiter streikten gegen Militarismus und für die Einheit Deutschlands. Aber bereits am 27. Februar 1955 wurde durch den Bundestag mit der Ratifizierung der Pariser Verträge und den damit einhergehenden Aufbau der NATO-Armee die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands vorerst verhindert.
Die ersten Monate meiner Lehrzeit waren bestimmt durch das „Wilhelm-Pieck-Aufgebot“. Zu Ehren des 80. Geburtstages des ersten Präsidenten der DDR gaben auch wir Lehrlinge unter der Losung „Für die vorfristige Erfüllung des Volkswirtschaftsplanes 1955“ unser Bestes. Neben den praktischen Leistungsergebnissen würdigten unsere Lehrmeister auch besondere Aktivitäten auf sportlich-kulturellem Gebiet. Von den 30 Lehrlingen unserer Gothaer Lehrwerkstatt war ich zum Leiter der Singegruppe und zum Wandzeitungsredakteur vorgeschlagen und gewählt worden. Sangen diese 30 Lehrlinge zum Ziehharmonikaspiel ihres Leiters zwar nicht mehr wohl aber vielstimmig waren wir trotzdem zu allen betrieblichen Feiern gefragte „Ausgestalter“. Auf dem “Pausenplatz” (Anm.: Heute ist von unserer Lehrwerksatt mit Pausenhof am Gothaer Viadukt nichts mehr vorhanden.) trieben wir täglich Sport wie Volleyball oder auch Luftgewehrschießen.
1956: Leiter der „Singegruppe“ (x) der Lehrwerkstatt, seine „Sänger“ und die Lehrmeister
Herbst 1956: Der Autor (x) mit Freund Siegfried Reiß beim Luftgewehrschießen
Gerade dieser selbstlose Einsatz vieler Lehrlinge auf sportlich-kulturellem Gebiet fand bei der Wettbewerbsauswertung entsprechende Würdigung. Im Februar 1956 erhielten sechs Lehrlinge für herausragende Leistungen einen mehrtägigen „Sonderurlaub“, den wir in der Berliner Pionierrepublik „Wilhelm Pieck“ verbrachten.
Als ein gerade Fünfzehnjähriger erlebte ich das noch sehr stark von der Zerstörung des Krieges gekennzeichnete Berlin, aber auch die zwei Seiten der geteilten Millionenstand. Vom jugendlichen Entdeckergeist geplagt, fuhren wir in unserer freien Zeit natürlich auch einmal bis zur U-Bahn Endstation. Hier überraschten uns die riesigen Filmplakate und die übervollen Geschäfte. Es hatte uns in den damals ja noch zugänglichen Westsektor verschlagen. Doch zum Kaufen fehlte uns das nötige Geld. Damals ahnte keiner von uns, dass schon bald Tausende Studenten und Angehörige der Intelligenz die Republik verlassen würden.
Mein zweites Lehrjahr begann in einer Zeit des Nachdenkens auf ideologisch-kulturellem Gebiet, was auch am pädagogischen und landwirtschaftlichen Sektor nicht spurlos vorüberging. Im anderen deutschen Staat hatte der Bundestag im Juli 1956 die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht beschlossen. Bundeskanzler Conrad Adenauer forderte für die Bundeswehr sogar Atomwaffen. Diesem Ansinnen war am 17. August das Verbot der KPD vorausgegangen. In Ungarn kam es am 23. Oktober zu einem Aufbegehren des Volkes, das aber ab 4. November von sowjetischen Truppen nach 10 Tagen militärisch erstickt wurde. Hunderte Arbeiter, Funktionäre und Soldaten fielen diesem Aufstand zum Opfer.
Wir Lehrlinge waren in jener Zeit verstärkt im Außendienst tätig. Überall mehrten sich die Stimmen, die einen 3. Weltkrieg nicht für ausgeschlossen hielten. Besonders brenzlig sah es an der deutsch-deutschen Grenze aus, was auch wir bei unseren Arbeiten entlang des Grenzgebietes Eisenach oft angsterfüllt verspürten.
Persönlich bereitete ich mich in der Station in Stockhausen mit meinen Arbeiten auf die Facharbeiterprüfung vor. Und in Stockhausen waren Grenztruppen stationiert.
In jener Zeit kam es zu manchen „Sondereinsätzen“, die auf Sabotageakte zurückzuführen waren. In der DDR waren die Angehörigen der Energieversorgungsbetriebe besonders gefordert.
Zu Beginn des Jahres 1957 hatten wir von der Fam. Krischel aus Saarbrücken, die während des 2. Weltkrieges bei uns als “Flüchtlinge” untergebracht war, erfahren, dass das Saarland seit dem 1. Januar politisch der Bundesrepublik Deutschland angehörte.
Als am 21.03.1957 im Osten Deutschlands ein neues Kohle- und Energieprogramm beschlossen worden war, hatten auch wir Lehrlinge manche „Sonderschicht“ zu fahren, uns gleichzeitig aber auch auf die Gesellenprüfung vorzubereiten. Jenes Programm sah u.a. vor, die Leistung der Kraftwerke von 32,7 Milliarden KWh vom Jahre 1957 auf etwa 41,5 Milliarden KWh im Jahre 1960 zu steigern. Demzufolge galten die praktischen Arbeiten unserer Gesellenprüfung als Freileitungs- und Kabelmonteure der Erweiterung bzw. Umrüstung des Energieverbundnetzes unseres Kreises Gotha.
Mein letzter Urlaub im VEB Energieversorgung Erfurt/Netzbetrieb Gotha sollte mich im August 1957 erstmals in das Ruhrgebiet führen.
Welches Ereignis war ausschlaggebend dafür, dass ich in meinem letzten Urlaub als gelernter Facharbeiter schon vor 45 Jahren jenes „Bergische Land“ erleben konnte, von welchem um 1140 aus Altenberg a.d. Dhünn der 1. Abt Eberhard des Bergklosters Asolveroth, dem Vorläuferbau des Zisterzienserklosters Georgenthal, nach Altenbergen im Thüringer Wald gekommen war?
Im Jahre 1956 hatte Georgenthals Friseurmeister Ernst Irmer (†) durch sein großes Engagement dem Georgenthaler Fasching wieder neues Leben eingehaucht. Ein Jahr später sollte es der Holzkaufmann Reinhard Beyreiß mit seinen Mitstreitern schaffen, den Fasching in Georgenthal mit einem großen Rosenmontagsumzug für alle umliegenden Ortschaften zu einem unvergessenen Erlebnis werden zu lassen. Anlässlich jenes Festumzuges und der Rosenmontagstanzveranstaltung 1957 lernte Schwester Bärbel den Bauingenieur Manfred Dittmar aus Mühlheim/Ruhr kennen, der zu dieser Zeit gerade bei seiner Georgenthaler Oma Ottilie Simmert zu Besuch weilte.
Frühjahr 1957: Der Autor und sein „Wickelendverschluß“ der Station Stockhausen/Eisenach
Als Manfred dann im Monat August seine Mutter und die Geschwister zu einem längeren „Georgenthal-Urlaub“ brachte, hätte er die Schwester gern mit seinem gerade erworbenen weißen Skoda das Rhein- und Moselgebiet erleben lassen. Für beide sollte dies ein zwar schöner doch unerfüllter Traum bleiben.
Zu jener Zeit war die Schwester Studentin an der Pädagogischen Hochschule unserer Geburtsstadt Erfurt. Dieser Tatbestand sowie die damaligen innen- und außenpolitischen Ereignisse untersagten der Schwester diesen Ferienurlaub. Gern sprang der Bruder als „Notnagel“ ein, hatte ich doch gerade erfolgreich meine Gesellenprüfung (Anm.: Der Gesellenbrief war mir allerdings erst nach meinem “bewilligten Westurlaub” am 01.09.1957 ausgehändigt worden.) abgelegt.
In Frankfurt a.M. warteten meine Patentante Elfriede und deren Gatte Sebastian Long auf jenen in Catterfeld zwischengelagerten Teil des Longschen Familienerbes. Onkel Sebastian Long (†) war der jüngere Bruder jenes Silbermedaillengewinners im Weitsprung vom Jahre 1936 Luz Long (†). (Anm.: Zwischen Luz Long und Amerikas damaligen Supersportler Jesse Owens (8,06 m) war es zur Berliner Olympiade (vom 01. Bis 16.08.1936) zum dramatischen Duell gekommen, in welchem der Deutsche Long mit Silber (7,87 m) unterlag.)
Manfred und ich transportierten damals die Wertstücke mit dem Skoda von Catterfeld nach Frankfurt a.M. Doch erst vier Monate später sollte mir bewusst werden, welches Glück mir beim unbeachteten Transport des „Familienerbes“ von Thüringen nach Frankfurt a.M. noch einmal zur Seite gestanden hat. Am 11. Dezember 1957 war von der Volkskammer der DDR das Passgesetz verschärft worden. Jetzt wäre ich für den illegalen Transport von Kunstgegenständen und Edelmetall aus der DDR in die BRD hart bestraft worden.
Zurück zu meinem ersten „Urlaub“: In Mühlheim/Ruhr angekommen, war die 1. Rate für Manfreds Skoda fällig, die Hausmiete musste bezahlt werden, doch die fällige Lohnauszahlung fand erst mit drei Tagen Verspätung statt. So war in diesen Tagen Schmalhans Küchenmeister und wir begnügten uns mit Würfelsuppen und Restkonserven.
Um meinem Gastgeber nicht unnütz auf der Tasche liegen zu müssen, konnte mich Manfred für 15 Tage als Bauhilfsarbeiter auf der von ihm geleiteten Baustelle unterbringen. Es handelte sich hier um den Bau eines Wohnhauses für den Besitzer eines Renngestüts in Bottrop. Für mich eine lohnende Angelegenheit. Meine 1,82 m Körpergröße ermöglichte die Anstellung als „Achtzehnjährigen“. Dies bedeute eine Erhöhung des Stundenlohns von nahezu 2 DM. Bei Siemens wäre der damalige Stundenlohn natürlich viel höher ausgefallen, doch der Gesellenbrief befand sich noch in meinem Lehrbetrieb in Gotha.
Der mir am Ende meiner 15-tägigen „Hilfsarbeiterzeit“ ausgezahlte Lohn reichte für den Erwerb eines tiefbraunen Manchesteranzuges, eines weißen Seidenhemdes mit grauem Lederschlips sowie für ein Paar schwarze Lacklederhalbschuhe; Kleidungsstücke, die damals als „hochmodisch“ galten und mich beim späteren Besuch von Veranstaltungen erleben ließen, dass „Kleider Leute machen“ können.
Aber auch für Geschenke für die inzwischen drei Schwestern Bärbel (1938), Christine (1942) und Beate (1952), meine Eltern, die Großeltern und die Tante reichte die unerwartet hohe Auszahlung. Und mit dem noch verbliebenen Restbetrag konnte ich sogar unsere Dreitagesfahrt entlag des „Vater Rhein“, der Mosel und der Ahr zu einem kleinen Teil mitbestreiten.
Unsere Kurzreise war von Manfred und dessen auch noch ledigen drei Freunden sehr gut vorbereitet worden. Für zwei Tage „Zelten“ wurden nicht nur der Kofferraum und der „Dachgarten“ des Autos, sondern auch noch ein kleiner Hänger vollgepackt, was mit uns 5 nicht gerade schmächtigen Personen ebenfalls für den treuen Skoda zutraf. Eingedenk des schönen Volksliedes „Hab mein Wage vollgelade“, begannen wir an einem frühen Freitagmorgen unsere Fahrt, die über Köln entlang des Rheins zur Mosel und Ahr, dann wieder zurück nach Mühlheim/Ruhr führen sollte.
Beim Erleben des majestetischen Kölner Domes, des Deutschen Ecks und der Feste Ehrenbreitstein von Koblenz sollte mein nahezu verschüttetes Interesse an der Erforschung der bedeutenden Geschichte meiner Thüringer Heimat wieder wachgerüttelt werden. Die „erlebten“ Burgen entlang des Rheins, der Mosel und der Ahr taten ihr übriges.
August 1957 am Deutschen Eck zu Koblenz v.l.n.r.: mein Gastgeber Manfred (†), der Autor und Manfreds Freunde
August 1957 Blick vom Deutschen Eck zur Feste Ehrenbreitstein Autor = zweiter von links
Von Koblenz führte uns die Fahrt am ersten Reisetag bis zu unserem Zeltplatz in Reil an der Mosel. Hier begrüßte uns ein riesiges Spruchband:
„Trink Reiler Wein vom Heißen Stein“
Doch bevor wir diesen Spruch befolgen konnten, bauten wir unsere zwei kleinen Zelte an dem recht schmalen Moselstrand als Nachtlager auf.
Und da wir anschließend bis zum frühen Morgen dem Reiler Wein sehr stark zugesprochen hatten, mussten wir beim Erwachen am frühen Vormittag des zweiten Urlaubstages entsetzt feststellen, dass wir dem Sensenmann noch einmal von der Schippe gesprungen waren. Unser Skoda, der uns „voll“ beladen zur Übernachtungsstelle gebracht hatte, befand sich jetzt nur noch wenige Zentimeter von einer stark ausgewaschenen Stelle des hier besonders schmalen Moselstrandes.
Am Reiler Moselstrand bei der Morgentoilette links = Autor
Unseren schweren Köpfen diente nun das Moselwasser nicht nur zur Ernüchterung, sondern auch zweimal zur „Morgentoilette“.
Nach annähernd erfolgter Ausnüchterung fuhren wir nun bis Traben-Trarbach, zum Nürburg-Ring, nach Alten- und Neuenahr, um am späten Abend unseres zweiten Reisetages noch einmal am Reiler Moselstrand zu nächtigen. Diesmal missachteten wir die riesengroße Aufforderung zum Weingenuss.
Gut ausgeschlafen lernte ich am dritten Reisetag auch erstmals Königswinter, Bad Godesberg, die damalige Hauptstadt Bonn, den Kölner Flughafen, Bergisch Gladbach und flüchtig sogar den Dom zu Altenberg a.d. Dhünn, den berühmten Bergischen Dom, kennen.
Damals konnte ich natürlich nicht ahnen, dass ich im Zusammenhang mit meinen späteren Forschungsergebnissen zur bedeutenden Geschichte des Zisterzienserklosters Georgenthal 33 Jahre später, am 11.02.1990, in Windhagen bei Königswinter vor Wissenschaftlern der Bonner Universität und am 5. September 1998 sogar im Pilgersaal des Bergischen Domes aus Anlass des 900jährigen Bestehens des Ordens der Zisterzienser meinen Farbdiavortrag zur gemeinsamen Geschichte der Zisterzen Altenberg a.d. Dhünn und Georgenthal a.d. Apfelstädt in Thüringen vor vielen Mitgliedern des bedeutenden Bergischen Geschichtsvereins halten würde.
Nach meinem ersten unvergesslichen Aufenthalt im Ruhrgebiet, dem ersten Kennenlernen der einmaligen Rhein-Mosel und Ahrlandschaft, händigte mir am 1. September 1957 mein damaliger Lehrmeister meinen Gesellenbrief aus und teilte mich dem Stationsbau zu. Dies bedeutete vorrangig Außendienst entlang der Grenze West im Kreise Eisenach. Hier richteten wir in Creuzburg, in Unter- und Obersuhl, in Berka a.d.Werra, in Schnellmannshausen und in Vitzeroda neue Umformstationen ein.
Und das gerade aus jenem Grenzdorf Vitzeroda einmal meine Frau kommen würde, ahnte ich damals natürlich nicht.
Zu jener Zeit betrug mein monatlicher Gesellenlohn 240,00 Mark, den ich mir mit dem Verkauf eines Teiles meiner Zusatzlebensmittelkarten für Fleisch- und Fettwaren, wir bekamen Schwerarbeiterzulage, etwas aufbessern konnte. Am 28. Mai 1958 beschlossen die Volks- und Länderkammer der DDR die Abschaffung aller Lebensmittelkarten ab 29. Mai. Damals gehörte auch ich zu jenen über drei Millionen Arbeitern und Angestellten, die im Monat weniger als 380,00 Mark Lohn erhielten. Nach Abschaffung der Lebensmittelkarten kam auch ich nun in den Genuss einer Lohnerhöhung von 80,00 DM pro Monat.
Doch folgende Ereignisse sollten meinen weiteren Lebensweg stark verändern. Bereits vom 28. Februar bis zum 2. März 1958 hatte die dritte Hochschulkonferenz der SED beschlossen, die Wissenschaft eng mit der Praxis in Industrie und Landwirtschaft zu verbinden. Am 24. und 25. April erklärte die Schulkonferenz der SED in Berlin die „umfassende Verwirklichung der polytechnischen Bildung und Erziehung“ zum eigentlichen Ziel. In der DDR fehlten damals allerdings zur Verwirklichung desselben noch die qualifizierten Fachleute.
Auf dem landwirtschaftlichen Sektor wurden im Jahre 1958 unter der Losung „Industriearbeiter aufs Land“ rund 13.800 Arbeiter für die Landwirtschaft gewonnen. Zu diesen gehörte auch unser Vater, der von seinem Betrieb, dem VEB „Glüsowerk Tambach-Dietharz“ zum Aufbau einer LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft) in Catterfeld/Altenbergen delegiert worden war. Ein sehr schweres, ein schier unmögliches und undankbares Unterfangen.
1959: Vater Walter mit dem Futter für unsere Kuh Lore
1959: Druschmaschinistenausweis des Autors
Damals wurden aber nicht nur Industriearbeiter für die Landwirtschaft, sondern verstärkt auch für den Lehrerberuf, besonders für Polytechnik, angeworben; hatten doch von 1954 bis 1959 etwa 13.800 Lehrer die DDR verlassen. In jene verstärkte Anwerbung waren auch die Studenten der pädagogischen Hochschulen der DDR einbezogen worden.
So war es wieder einmal Schwester Bärbel, die diesmal für die entscheidende Wende in meinem weiteren Leben sorgen sollte. Wieder war es der Garten der Großeltern, diesmal aber in Georgenthal, Neue Straße 33, wo sich die Erfurter Großeltern 1948/49 ihr sogenanntes „Notwohnhäuschen“ geschaffen hatten. Hier fand das wohl entscheidende Gespräch statt. An einem Sommernachmittag erklärte die Schwester hier den Großeltern und ihrem Bruder, wie dieser durch den Erwerb des Abiturs im „Vorkurs“ und einem sich anschließenden Direktstudium nach sechs Jahren Lehrer sein könne. Doch dass dies bereits nach drei Jahren geschehen würde, ahnte damals keiner.
1958: Oma Martha, Opa Wilhelm und Schwester Bärbel im Garten, Foto: Autor
Noch belächelte ich die Vorstellung, einmal Lehrer zu werden, doch die Tatsache, dass im Sommer 1958 in Erfurt noch 8 x mehr weibliche Studenten immatrikuliert waren, reizte mich schon. Sollten Schwester und Bruder doch noch einmal gemeinsam an der pädagogischen Hochschule ihrer Geburtsstadt studieren? Noch nahm ich das Werben nicht ernst, denn: „Mit 17 hat man noch Träume“.
Aber nicht nur die Schwester ließ nicht locker, auch die Werbegespräche der dafür Verantwortlichen von der Betriebsleitung nahmen stetig zu. Sogar unsere Mutter, die ihre Schulausbildung einst am Erfurter Ursulinenkloster absolviert hatte, unterstützte die Werbung. Sie erinnerte an jene Worte des berühmten Studiosus Martin Luther aus Mansfeld: „Wer recht studieren will, der ziehe nach Erfurt“. Martin Luther begann mit seinem Studium an der Erfurter Universität im Jahre 1501 – ich allerdings erst 457 Jahre später.
1958: der Autor mit 17 Jahren
Gräfenroda, Oktober 1958: v.l.n.r.: Autor, sein Freund Siegfried Reiß und Altgeselle Herr Theylich
So verlegte ich im Oktober 1958 mit meinem Wechmarer Freund Siegfried Reiß und unserem Altgesellen Herrn Theylich (†) aus Ohrdruf in Gräfenroda letztmalig Erdkabel und fertigte hier auch meinen letzten Wickelendverschluss. Der VEB Energieversorgung Erfurt Netzbetrieb Gotha hatte mich zum Studium an das PI (Pädagogische Institut) Erfurt delegiert. Nicht nur die Vorgespräche, die bestandene Aufnahmeprüfung im Oktober 1958, sondern letztendlich das Aufnahmegespräch und folgende Feststellung in der Beurteilung meines Betriebes waren ausschlaggebend für meine Nachimmatrikulation. In der Beurteilung war u.a. zu lesen: „Er leitete den Chor des VEB Energieversorgung Erfurt Netzbetrieb Gotha“. Und ich hatte doch lediglich die 30 Lehrlinge und später die noch im Betrieb verbliebenen Gesellen bei deren vielstimmigen „Gesang“ mit meiner Ziehharmonika zu Versammlungen und Brigadefeiern musikalisch begleitet.
Aber gerade die Musik und der Chorgesang sollten für die nun folgende Studienzeit und mein weiteres Leben bis heute bedeutsam bleiben.